Höhere Wahrheit

Auszug aus einem Interview der FAZ mit der Lektorin Elisabeth Ruge

Aber wie erkennt man ein wichtiges Buch unter Hunderten Manuskripten?
Das ist schwer zu sagen. Es hat viel mit Intuition zu tun – das klingt ein bisschen klischeehaft und nach einer Platitude. Es ist aber so. Es ist fast ein seltsames Gefühl, das sich einstellt. Man spürt einfach, dass jemand etwas Wichtiges zu erzählen hat.
Wichtig in welchem Sinn?
Wichtig, weil das Buch zwar von einem bestimmten historischen Zeitpunkt erzählt, seine Bedeutung sich aber nicht mit voranschreitender Zeit erschöpft. Wenn ich beispielsweise an die „Zinkjungen“ denke, das erste Buch, das ich von Swetlana Alexijewitsch gemacht habe, dann war zwar entscheidend, dass sie auf den ersten Krieg in Afghanistan und auf seine Auswirkungen auf die Gesellschaft und den Einzelnen in der damaligen Sowjetunion blickte. Aber sie tat das auf eine Weise, die mir etwas über das bestimmte historische Ereignis hinaus zu verstehen gab. Pathetisch würde man sagen, da ist eine höhere Wahrheit.
Können Sie versuchen, das zu präzisieren?
Es ist die Darstellung einer allgemeineren existentiellen Erfahrung, entwickelt aus einem präzis beobachteten historischen Augenblick. So ist es auch in Alexijewitschs Buch „Tschernobyl“, in dem es um die Reaktorkatastrophe geht, aber darüber hinaus auch um die Unfassbarkeit des apokalyptischen Geschehens: Sie erzählt, wie die Menschen in einem kleinen ukrainischen Dorf auf ihre Apfelbäume schauen, an denen schöne rote Äpfel hängen, und wie sie auf ihre Haustiere und den blühenden Garten blicken, auf ihr ganzes bisheriges Leben – und dann gesagt bekommen, das ist alles giftig, ihr müsst hier weg! Alexijewitsch hat das die „Chronik einer Zukunft“ genannt. Wir bekommen etwas erzählt, was wir eigentlich gar nicht verstehen können, weil es jenseits unseres Vorstellungsvermögens liegt.

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