„Also wieder was Autobiographisches“, habe seine Mutter erwidert, als er ihr den Titel seines neuesten Buchs verraten habe, sagt Michael Kleeberg bei einer Lesung auf dem Erlanger Poetenfest. Ein selbstironischer Scherz, wie jeder sogleich versteht. Autobiographisch sind an Kleebergs Werk Der Idiot des 21. Jahrhunderts allenfalls die Geschichten darin in Bezug auf die Figuren, die von ihrer Flucht aus Teheran, vom Überleben im kriegsversehrten Libanon, von Erlebnissen in der deutschen Provinz usw. erzählen.
Ein Idiot im Sinne eines Dummkopfs tritt dabei nicht hervor. Anders als bei Kleebergs vorherigen Romanen wie Karlmann, Vaterjahre oder Ein Garten im Norden ergibt sich der Titel nicht von selbst, sozusagen natürlich, aus der Handlung, sondern er erweist sich als eine literarische Anspielung: auf Dostojewskis Der Idiot, mit dessen Protagonisten Fürst Myschkin bei Kleeberg ein Mittfünfziger namens Hermann verglichen wird, der, wie seine Freunde sagen, „der Unverfügbare“ ist: „Nicht zu rekrutieren, nicht zu instrumentalisieren, nicht zurechtzustutzen. Unbeeindruckt vom Werben der Ideologen der Politik, der Moral, des Konsums. Nicht fürs Hassen und Parteinehmen und Ausgrenzen zu vereinnahmen.“ Der Idiot also als jemand, der sich dem Bösen der Verhältnisse verweigert, und daher – ganz im Gegensatz zu Adornos Apodiktum – sehr wohl ein richtiges Leben im falschen führt. Genauer gesagt, gibt es nicht nur ein, sondern sogar viele richtige Leben im falschen. Dafür geben neben Hermann zahlreiche Personen, die in den Erzählungen vorkommen, Beispiele ab. Menschlichkeit trotz bedrückender, mitunter mörderischer Zustände.
Auch der Untertitel ist eine literarische Anspielung. Die Bezeichnung Ein Divan verweist auf Goethes gleichnamige Sammlung „west-östlicher“ Gedichte, in welcher der Weimarer Poet dem persischen Dichter Hafis nachspürt. Goethe-Reminiszenzen, nämlich Anlehnungen an dessen Sprache wie Leben, durchziehen Kleebergs Buch. So liegt der Schauplatz, an dem die Geschichtenerzähler zusammenfinden, nahe Goethes Heimatstadt Frankfurt und der Gerbermühle, wo der Dichter einst bei Jakob und Marianne von Willemer weilte; es begegnen dem Leser ein morgendlicher Dialog, der zur Rezitation goethescher Lyrik mutiert, ein arabischer Begriff, der genauso klingt wie der Name des Flusses in Weimar, oder die Wortwahl „alles Unterste zuoberst gekehrt“ aus dem Munde eines nach Deutschland geflüchteten libanesischen Teenagers.
Solche Parallelen überraschen ebenso wie der Erzählton in anderen Passagen, beispielsweise wenn ein Handwerker aus Polen über die Wirkung des Theaters reflektiert, wenn ein Pfälzer, der im 19. Jahrhundert nach Amerika auswanderte, sich mit einem heutigen Flüchtling aus Syrien mitfühlend austauscht oder wenn die Schilderung einer realen Liebesgeschichte ins Märchenhaft-Mythologische kippt.
Auf diese Weise bündelt Kleebergs Divan nicht nur diverse Anekdoten und Schicksale aus Orient und Okzident, sondern auch weitauseinander liegende Stile. Naturalistisches und unmittelbar Erlebtes mischen sich mit Idealisiertem, Theoretischem und Utopischem. Die Darstellung wirkt infolge dessen immer wieder künstlich und darum würde man ihr nicht folgen, wenn man nicht den kunstvollen Überschuss zu schätzen wüsste. Das Werk bleibt literarisch-ästhetisch in einer nicht greifbaren Schwebe (oder Heterogenität), so wie es sich selbstverständlich auch politisch-inhaltlich nicht auf eine Seite, beispielsweise in der Einstellung zum Islam, schlägt. Um eine Formel aus dem Text selbst zu verwenden: Kleebergs Buch ist eine widerstrebende Fügung, wie Apollons Bogen und Leier, die dadurch zusammengehalten werden, dass ihre beiden Bestandteile sich in entgegengesetzte Richtung spannen. Das heißt aber auch: Eine widerspruchsfreie Integration bietet diese Sammlung europäisch-nahöstlicher Begegnungen nicht an.