Demokratisiert hat sich mit der Gesellschaft auch die Art, literarisch zu erzählen. Statt allmächtiger Erzähler alter Epen prägen in modernen Romanen individuelle Perspektiven das Geschehen. Seit einiger Zeit erleben wir aber, dass die Demokratie angefochten wird, sei es durch frustrierte Bürger, europäische Bürokratie, chinesische Diktatur oder globale Unternehmen. Gibt es auch hierfür eine Parallele in der Literatur?
Sibylle Bergs neuestes Buch thematisiert und fantasiert ebendiese politische Entwicklung: Die Transformation Großbritanniens von einer in Abgehängte und Etablierte gespaltenen, marktwirtschaftlichen Demokratie in einen sozialen Überwachungsstaat, befördert durch Informationstechnik und reiche Ausländer. Schauplätze sind die Industrieruinenstadt Rochdale sowie London, an denen drei Mädchen und ein Junge namens Don, Hannah, Karen und Peter Verwahrlosung, Gewalt, Kälte, Hässlichkeit usw. ein ums andere Mal durchstehen.
Alle Haupt- und Nebenfiguren werden mit einer Art Mini-Steckbrief eingeführt: Unter dem Namen erscheinen Kategorien wie „Gefährdungspotential“, „Interessen“, „Gesundheitszustand“ oder auch „Verwertbarkeit“ und dahinter (mitunter sarkastische) Stichworte. Auf diese Weise stempelt die Erzählerin ihre Figuren ab, bevor wir als Leser sie kennenlernen. Im Grunde genommen lernen wir sie auch gar nicht kennen, denn trotz der Länge von über 600 Seiten erfahren wir so gut wie nie, was in diesen Kindern vor sich geht und warum sie zusammenhalten.
Nach einem Siebtel des Buchs schöpft man Hoffnung auf eine lebendige Entfaltung, wenn es emphatisch heißt: „Dies ist die Geschichte von Don, Peter, Hannah und Karen / Die von jetzt an ihre Zeit nach der Schule und an den Wochenenden gemeinsam verbrachten.“ Doch nichts davon zeigt sich uns auf den nächsten hundert Seiten, bis mit der Flucht der Kinder aus ihrer Stadt eine neue Etappe beginnt. Das klingt dann so: „Pause. / Während die Geschichte von Hannah, Don, Peter und Karen eine neue Dynamik bekommt, die aus dem Packen von Taschen, dem stillen Abschied von ihrer Kindheit und einer misslungenen Reise nach London besteht (der Bus nach Manchester hatte Verspätung. Es gab keinen Anschluss, die Kinder übernachteten in Manchester-Salford und setzten ihre Flucht am nächsten Tag fort). Ein guter Zeitpunkt, über Beschleunigung zu sprechen, die abstrakt in der Welt stattfand und eine paradoxe Wirkung auf viele Menschen hatte.“ Anders gesagt: Vor dem Interesse dieser Erzählerin an abstrakten Verhältnissen muss das konkrete Erleben ihrer kleinen Helden zurücktreten.
Auf den verbleibenden 400 Seiten geraten zwar Szenen, wie die vier Kinder in einer Londoner Fabrikhalle hausen, in den Blick, doch Interaktion und Kommunikation bleiben rudimentär. Der wohl intensivste Moment erwächst daraus, dass Peter und Hannah erkennen, einander verliebt zu sein, aber auch diesen erdrückt die Erzählerin mit ihrer altklugen Sicht: „Hannah sitzt neben Peter auf der Treppe vor der Halle, aus der leise Nachrichten dringen. Ich werde nie mehr etwas wollen, denkt Hannah in kompletter Unkenntnis der Funktion von Hormonen. Peter denkt so etwas nicht, er ist ein Mann, er ist seltsam, er ist erregt und glücklich. Er könnte immer so sitzen bleiben. Den warmen Körper von Hannah an sich spürend. Wie weich sie sich anfühlt, wo sie doch so knochig und kantig wirkt. Wie weich er sich anfühlt, denkt Hannah und möchte in Peters Körper sitzen, da muss es einen warmen Ort geben, und von ihm durch die Nässe getragen werden. / Na ja. Und so weiter. Verliebt eben. / Der Fernseher läuft. In einer Endlosschleife laufen die Ergebnisse der Wahl. / Die Internet-Partei hat mit 80 Prozent der Stimmen gewonnen. Ein Avatar wird der neue Premierminister. Die Bevölkerung hat einem jungen, dynamischen High Performer ihr Herz geschenkt.“
Es ist ein Bevormundungsroman, in dem Sinne, dass die Erzählerin ihre Protagonisten kaum zu Wort kommen lässt, sondern lieber selbst kommentiert oder ins Gesellschaftskritische, Misanthrope, Feministische ausgreift. An einer Stelle wird der Roman hierzu selbstreferentiell. Hannah, das am ehesten von seinen Eltern geliebte der vier Kinder, bekennt: „Ich lese in Büchern am liebsten Dialoge.“ Don, das kräftigste und nicht nur von seinem Namen her männlichste der Mädchen, ist gegenteiliger Meinung. „Don hasst Bücher mit Dialogen und ist überzeugt davon, dass es ein fauler Tick von Schriftstellerinnen ist, dieses Dialoggeschreibe. Es füllt die Seiten so schön. Mit den leeren Sätzen, die die meisten Menschen austauschen, mit all den unglaublich unsinnigen Worten, die sie dazu verwenden, ihre Wichtigkeit darzustellen oder über ihre Beziehungen zu sprechen oder einfach nur ihre Angst, nichts zu sein als eine Ansammlung von Bedürfnissen. ‚Willst du mich küssen?‘ Fragt Don nicht und starrt in das fucking Buch“.
Don, die nichts von Dialogen hält, ist in die Dialoge liebende Hannah verliebt, doch die beiden kommen nicht zusammen. Ein Scheitern, so wie auch die Autorin Sybille Berg – der ebenfalls nicht an persönlichen Stimmen gelegen ist – scheitert: Sie prangert die repressiven Verhältnisse (infolge des Patriarchats, Kapitalismus oder der IT-Herrschaft) an, während sie selbst ihren Figuren Freiheit vorenthält. Sie erzählt, wie in alten Epen von hoher Warte, aber mit dem modernen Anspruch, dass die Menschen hohen Mächten nicht ausgeliefert sein dürfen. Befreiung zu fordern und bevormundend zu sein, ist politische Heuchelei und keine Literatur.