Unter „einer Seele von Mensch“ stellt man sich eher nicht einen Nationalsozialisten vor. Trotzdem wird uns Karl Jerzabek, Hausmeister eines heruntergekommenen Landschlosses in Österreich, mit dieser freundlichen Charakterisierung vorgestellt, bevor wir erfahren, dass er NSDAP-Ortsguppenleiter geworden ist und zusammen mit seiner Familie die demente Schlossbesitzerin tyrannisiert. Als deren Sohn,...
Was einem Atheisten übrigbleibt – Strunks „Sommer in Niendorf“
Ein Wirtschaftsanwalt nimmt sich eine Auszeit an der Lübecker Bucht, um ein Buch zu schreiben, und gerät aus der Bahn. Liegt es an dem Spirituosenhändler, mit dem Georg Roth, so heißt der Held in Heinz Strunks neuem Roman, Bekanntschaft macht? Variiert die Geschichte, die an einer Stelle Thomas Mann...
„Vernichten“ – Wird Houellebecq verstummen?
An manchen Montagen Ende November oder Anfang Dezember fühlt man sich, besonders als Alleinstehender, wie im Todestrakt. Mit diesen trostlosen Worten führt uns der Erzähler ein in die Bemühungen eines französischen Geheimdienstmitarbeiters, einer Terrorgruppe auf die Spur zu kommen, die den Wirtschaftsminister bedroht, indem sie auf rätselhaft-perfekte Weise dessen...
Eurotrash, Christian Krachts Besuch einer alten Dame
Eine Fortsetzung von Faserland, jener 90er-Jahre-Novelle, mit der Christian Kracht berühmt wurde, soll es sein. Begab sich damals der Ich-Erzähler alleine auf eine Tour von Sylt nach Zürich, sucht er nun seine Mutter in selbiger Schweizer Stadt auf, um mit ihr zu verreisen und dabei möglichst viel Geld loszuwerden...
Krass – Martin Mosebach erzählt aus der Kohl-Ära
Wie sehr ist das, was wir bewundern, bloß eine Illusion? Die Fallhöhe vom Schein zur Wirklichkeit kann groß sein: Ein Zauberer gibt auf der Theaterbühne eine telepathische Meisterleistung zum besten, dabei hat er sich lediglich mit einem Beteiligten vorher abgesprochen. So beginnt Martin Mosebachs jüngster Roman, dessen Hauptfigur, der...
Afrika als Ausweg aus der Schuld und Abrechnung: Peter Handkes Zweites Schwert
Mit der Vergabe des Literatur-Nobelpreises an Peter Handke im Herbst kochte die Kritik an seiner Parteinahme für Serbien im Balkankrieg hoch. Seine danach erschienene Erzählung Das zweite Schwert soll zwar keine Reaktion darauf sein, denn sie wird auf den Mai 2019 datiert, trotzdem passt sie dazu: Der Ich-Erzähler will...
Susanne Neuffer erzählt von Wundern jenseits des Geredes
Literatur und Kleider bestehen, im übertragenden oder wörtlichen Sinne, aus gewebten Fäden, doch griffe man zu kurz, sie bloß als Texte und Textilien zu verstehen. Sie können Wunder wirken, und damit beginnt der neue Erzählband von Susanne Neuffer: Eine Künstlerin reist zu einer Ausstellung ihrer Skulpturen, ohne den Rat...
GRM Brainf… ein Bevormundungsroman von Sybille Berg
Demokratisiert hat sich mit der Gesellschaft auch die Art, literarisch zu erzählen. Statt allmächtiger Erzähler alter Epen prägen in modernen Romanen individuelle Perspektiven das Geschehen. Seit einiger Zeit erleben wir aber, dass die Demokratie angefochten wird, sei es durch frustrierte Bürger, europäische Bürokratie, chinesische Diktatur oder globale Unternehmen. Gibt...
Houellebecqs Serotonin zwischen Gottes Liebe und EU-Schlampe
Diese Melange aus Scharfsinn und Pornographie, Seelenlosigkeit und Mitgefühl kennt man schon, doch in Serotonin klingt Houellebecq religiöser als in seinen früheren Werken. Der Anfang des neuen Buchs versetzt uns in eine Szenerie der Elementarteilchen, des ersten großen Houellebecq-Romans von 1997: Der Protagonist macht Urlaub in einer alternden Nudistenkolonie,...
Davon geht die Welt nicht unter: Dörte Hansens „Mittagsstunde“ und die moderne Landflucht
Dass Ortschaften auf dem Lande veröden und sich die dort Übriggebliebenen abgehängt fühlen, ist ein politisches Problem. In diesen Kontext könnte man Dörte Hansens neuen Roman Mittagsstunde stellen, der von dem Niedergang eines Dorflebens an der nordfriesischen Küste handelt. Kann man daraus politisch etwas lernen? Der Umbruch für Brinkebüll,...